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ghazal1986
Anmeldungsdatum: 12.09.2011 Beiträge: 4
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Verfasst am: 31. Okt 2011 21:57 Titel: Probleme mit dem Verständnis der Evolutionstheorie |
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Hallo,
In nahezu jedem wissenschaftlichen Text stöße ich auf solche Sätze:
"Der Schwanz des Menschen hat sich zurückgebildet, weil dieser nicht mehr gebräuchlich war"
"Der Mensch begann aufrecht zu gehen, weil er dadurch seine Hände immer mehr benutzen konnte"
usw......
Das heißt also, dass der Mensch duch Anpassung an Lebensbedingungen neue Merkmale entwickelte, die schließlich zu phänotypischen Änderungen und deren Weitergabe an nachfolgende Generationen führten.
Aber ist das laut Evolutionstheorie eigentlich nicht umgekehrt? Etwa so: Erst Mutation, dann Anpassung? Ist es denn nicht so, dass der Umwelt entscheidet ob eine Mutation schädlich oder vorteilhaft ist?
Ich meine...die Natur kann doch nicht denken "Ok!!! Jetzt wo der Mensch den Schwanz nicht mehr braucht, bewirke ich eine Mutation, damit er diesen verliert"
Ich finde das ist ein Wiederspruch zur Evolutionstheorie. Oder irre ich mich?
Bitte verzeiht, wenn ihr Rechtschreibfehler entdeckt. Hab leider keine Zeit um den Text nochmal durchzulesen, denn mein Baby schreit gerade die Selle aus dem Leib lol
Danke |
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jörg
Anmeldungsdatum: 12.12.2010 Beiträge: 2107 Wohnort: Bückeburg
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Verfasst am: 01. Nov 2011 00:25 Titel: |
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Ich bezweifele, dass derart zusammenfassende und pauschale Formuliuerungen in renommierten wissenschaftlichen Texten zu finden sind, aber nun gut.
Selbstverständlich hast du mit deinen Anmerkungen recht, dass die Aussagen missverständlich und entsprechend moderner Ansichten auch unzulänglich und falsch sind. Doch sei auch zu bedenken, dass gerade mit dem aufrechten Gang und der Nutzung der Arme in allen drei Raumebenen mehr als nur eine anatomische Veränderung einherging: Das Schlüsselbein z.B. ermöglicht die Nutzung der Arme auch in der dritten Raumebene, was mit einem Selektionsvorteil des aufrechten Ganges einhergeht. Der Pinzettengriff ist ein weiterer Punkt, der der Freiheit der oberen Gliedmasse zu einem Vorteil verholfen hat. Immerhin bedeutet der aufrechte Gang nicht nur die Freiheit der oberen Gliedmasse, sondern erfordert eine Anpssung des Gleichgewichtssinnes, der Stellung des Kopfes im Raum, der Ordnung neuronaler Zentren und vieles, vieles mehr. Manchmal muss eine Mutation aber nicht unbedingt einen Vorteil bedeuten, es reicht, wenn sie keinen zusätzlichen Nachteil mit sich bringt. Ähnliches könnte man von dem Verschwinden des Schwanzes annehmen.
Die Veränderung steht nicht nur im Bezug zu den ökologischen Verhältnissen, sondern auch zu den sozialen, denn immerhin müssen Vertreter einer Art sich ja auch sexuell attraktiv erscheinen. Auch das kann ein Grund für Selektion sein.
Aber im Prinzip hast du recht, es wird quasi ungerichtet herummutiert und alles, was Schrott ist, kommt auf die Müllhalde und was brauchbar ist, wird auf die Bühne des Lebens geworfen und darf in der Konkurrenz zwischen den Arten und innerhalb einer Art mitspielen.
Die von dir zitierten?? Aussagen stellen zudem einen vermeintlich kausalen Zusammenhang her, der so nicht vorhanden ist, sondern lediglich ein Bestandteil unseres Denkens. Ein kausales "weil" hat in einer entwicklungsgeschichtlichen Argumentation eigentlich eher selten etwas verloren. _________________ RNA?- just another nucleic acid? |
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Hedera
Anmeldungsdatum: 08.03.2011 Beiträge: 657
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Verfasst am: 01. Nov 2011 02:37 Titel: |
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Bei der Evolution gibt es viele Fallen...
Es gibt klare Prinzipien, die man jedoch in der Gesamheit beachten muss und die Evolution ist einfach so komplex, dass es schwer ist diese zu vereinfachen.
Reduziert man die Evolution stumpf auf das Mutieren von Genen, reduziert man zu sehr.
Zitat: | "Der Schwanz des Menschen hat sich zurückgebildet, weil dieser nicht mehr gebräuchlich war" |
Diese Aussage stimmt voll und ganz. Jedoch muss man sie richtig verstehen. Nachdem der Schwanz für den Menschen den Nutzen verloren hat, waren Mutation, welche zu Fehlbildungen von diesem führten egal. Wenn ich ein Auto haben will, das mich von A nach B bringt, dann ist es mir egal, wenn das Autoradio zunächst eine leichte Störung hat und dann irgendwann ganz kaputt ist
Merkmale, die im Laufe der Evolution nicht mehr genutzt werden erfahren keinen Selektionsdruck und könnten somit lustig vor sich hinmutieren (unter Beachtung, dass eine solche Mutation natürlich keine letale Wirkung hat) und irgenwann kommen wir dann eben zu solchen rudimenteren Überbleibseln, wie dem Steißbein.
Dies ist zB. ein solches Prinzip:
Merkmale auf die keine Selektion wirkt können frei mutieren, bis sie selektiv wirken (sofern sie es überhaupt irgendwann wieder tun).
Ander ist es eben bei Merkmalen, auf die eine Selektion wirkt. Merkmale die für einen Selektionsvorteil sorgen, werden gefördert. Negative hingegen verdrängt.
Jörg beschreibt schon sehr schön, wie komplex die Evolution solcher Merkamle, wie dem aufrechten Gang, ist. Zwischen dem Vierbeiner und dem Zweibeiner war eine sehr sehr lange Zeitspanne, die sich keine Mensch wirklich vorstellen kann, da sie unsere Vorstellungskraft übersteigt. In dieser Zeitspanne sind die ganzen Veränderungen, die Jörg angerissen hat, Stück für Stück entstanden. Der Mensch ist nicht zum Zweibeiner geworden und zeitgleich war sein Schwanz weg. Bei Affen kansnt du zB. eine Art Zwischenstufe finden. Der Mensch hat es lediglich zur "Perfektion" (sofern man den Begriff verwenden kann) gebracht.
Zitat: | Etwa so: Erst Mutation, dann Anpassung? |
Nein, genau das ist eine zu starke Reduzierung auf die Gene. Natürlich ist es nicht falsch, aber einfach zu pauschal.
Als Beispiel soll hier mal die Blutgruppenverteilung genannt sein:
Es gibt bekanntlich vier Blutgruppen (Null, A, B, AB)
Null wird rezessiv vererbt. Der Genotyp muss also homozygot Null sein.
A ist gegenüber Null dominat. Der Genotyp muss also homozygot A sein oder heterozygot Null/A
Für B gilt das selbe wie für A
A und B sind untereinander codominat. Ein heterozygoter Genotyp A/B hat also die Blutgruppe AB.
Anhand dieser Fakten geht man eigentlich davon aus, dass die Blutgruppen A, B deutlich häufiger Auftreten als Null und AB. Die Frequenz, also die Verteilung sieht aber ganz anders aus (siehe Wiki http://de.wikipedia.org/wiki/Blutgruppe). Obwohl Null rezessiv ist und nach jeder theoretischen Rechnung deutlich seltern auftreten müsste als die anderen, tirtt Null relativ häufig auf.
Hier wird also nicht auf Genebene und somit durch Mutation selektiert, sondern auf Allelebene, also das Merkmal, welches durch die Rekombination vorhandener Gene entsteht.
Viele Proteine konnte zB. auch nur deshalb entstehen, weil sie im Genom dupliziert wurden. Nehmen wir an, dass Gen A für das Protein a codiert. a ist nun ein sehr konserviertes Protein, wo eine Mutation immer letal wirkt. Wenn aber das Gen A passend dupilziert wurde und wir daher ein zweites Gen A haben, dass nun zuviel ist, jedoch keinen direkten Selektionsnachteil mit sich bringt, kann diese Gen zum Gen A' mutieren und wir haben ein Protein a', was sich evolutionär von Protein a ableiten lässt, aber eine völlig andere Aufgabe übernimmt.
Die Evolution ist ein äußerst spannendes Thema, jedoch wirklich sehr komplex und es braucht viel Zeit um diese Komplexität zu erfassen und zu verstehen. Aber hinterfragen ist immer der richtige Ansatz |
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jörg
Anmeldungsdatum: 12.12.2010 Beiträge: 2107 Wohnort: Bückeburg
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Verfasst am: 01. Nov 2011 17:13 Titel: |
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Hedera hat Folgendes geschrieben: | B Nachdem der Schwanz für den Menschen den Nutzen verloren hat, waren Mutation, welche zu Fehlbildungen von diesem führten egal. |
Das war auch einer meiner Ansätze, und ich stimme hier bedingungslos mit dir überein
jörg hat Folgendes geschrieben: | IManchmal muss eine Mutation aber nicht unbedingt einen Vorteil bedeuten, es reicht, wenn sie keinen zusätzlichen Nachteil mit sich bringt. Ähnliches könnte man von dem Verschwinden des Schwanzes annehmen. |
wie du von hier allerdings auf die Richtigkeit der Aussage kommst, ist mir unklar, denn einen kausalen Zusammenhang (kausales "weil" in der Aussage) sehe ich hier nicht.
Oder übersehe ich da irgendetwas?
Da der Schwanz eben nicht mehr überlebensnotwendig war, konnte er auch verschwinden, nun gut. Das heisst aber noch lange nicht, dass er deswegen auch verschwinden muss, wie es die Aussage aufgrund ihrer geknüpften Kausalitätskette impliziert.
Hedera hat Folgendes geschrieben: | Hier wird also nicht auf Genebene und somit durch Mutation selektiert, sondern auf Allelebene, also das Merkmal, welches durch die Rekombination vorhandener Gene entsteht. |
Diese Aussage verstehe ich in Bezug auf die Blutgruppen nicht, zumal Blutgruppe 0 eine ganze Hand voll Selektionsvorteile aufweist, einer der wichtigsten ist eine verringerte Infenktionsanfälligkeit bezüglich Erreger und Parasiten, die die Erythrocyten befallen. Ausserdem besteht nach meinem Wissen die Theorie, dass sie aus Blutgruppe A mutiert ist.
Schaut man sich die Verteilung über der Welt an, so fällt schon sehr stark auf, dass in Regionen, in denen das Vorkommen intraerythrocytärer Erreger hoch ist, das Auftreten von Blutgruppe 0 auch höher ist.
Ich sehe da durchaus einen Selektionsdruck.
Ich würde sogar sagen, dass Blutgruppe 0 womöglich einmal die häufigste gewesen sein könnte (bzw. auf dem Wege dazu) und erst mit dem Umgehen der Selektionskriterien für diese Blutgruppe die anderen beiden wieder zugenommen haben.
Was hilft schon ein dominantes Merkmal, wenn der Träger nicht das reproduktionsfähige Alter erreicht? Ein Hinweis darauf ist, dass die Blutgruppe 0 seit Bestehen eines ausgeprägten medizinischen Versorgungssystems stetig rascher abnimmt. Die von dir erwähnten Dominanz-Kriterien in Bezug auf die Populationsgenetik sind nur dann zugrunde zu legen, wenn alle Merkmale die gleichen Selektionskriterien erfüllen. Dazu müssten wir also erst noch abwarten, ob Blutgruppe 0 in der westlichen Welt wieder verdrängt wird. Diese Tendenz ist tatsächlich zu beobachten, womit ich deine Argumentation nicht verstehe.
Oder wolltest du mit dem Beispiel etwas ganz anderes sagen? Dann bitte ich um eine Erklärung.
Das mit der Duplikation funktioniert übrigens auch andersherum und bedeutet manchmal ein Dominanzkriterium: Ein Individuum trage eine letale und eine gesunde Ausprägung eines Merkmals. Ein Stillegen des Gens sei nicht möglich oder ebenfalls letal. Das Gen für das Merkmal "gesund" könnte nun dupliziert werden, um damit bei Expression dieses Gens statistisch 2/3 des funktionsfähigen Proteins eines Gesunden zu erhalten. Tatsächlich ist der Anteil jedoch sogar noch höher. _________________ RNA?- just another nucleic acid? |
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Hedera
Anmeldungsdatum: 08.03.2011 Beiträge: 657
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Verfasst am: 01. Nov 2011 18:57 Titel: |
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Zitat: | Das war auch einer meiner Ansätze, und ich stimme hier bedingungslos mit dir überein |
Ich weiß Ich wollte es nur nochmal aufgreifen
Zitat: | Da der Schwanz eben nicht mehr überlebensnotwendig war, konnte er auch verschwinden, nun gut. Das heisst aber noch lange nicht, dass er deswegen auch verschwinden muss, wie es die Aussage aufgrund ihrer geknüpften Kausalitätskette impliziert.
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Richtig, natürlich muss er nicht verschwinden. Aber in der Regel verschwinden unnötige Ausprägungen mit der Zeit (mir ist kein funktionsfähiges Organ im Tierreich bekannt, dass überhaupt keinen nutzen bring).
Wir wissen aber, dass er verschwunden ist. Und wir wissen auch wie das passiert ist (durch Mutationen und nicht existente Selektion). Also können wir auch darauf schließen, dass der Schwanz verschwunden ist, weil es eben keinen Selektionsdruck mehr gegeben hat und er "wegmutieren" konnte. Die plakative Aussage:
Zitat: | "Der Schwanz des Menschen hat sich zurückgebildet, weil dieser nicht mehr gebräuchlich war" |
Ist natürlich ziemlich mies, weil man eben zwischen den Zeilen lesen muss. Dennoch ist sie richtig. Nur eben schlecht formuliert und zu sehr reduziert (es wird also zuviel Wissen vorrausgesetzt).
Mit den Blutgruppen hast du mich offensichtlich falsch verstanden:
Zitat: | zumal Blutgruppe 0 eine ganze Hand voll Selektionsvorteile aufweist, einer der wichtigsten ist eine verringerte Infenktionsanfälligkeit bezüglich Erreger und Parasiten, die die Erythrocyten befallen. |
Ich sagte auch nur, dass wir rein theoretisch anhand der Vererbung davon ausgehen, dass Null deutlich seltener ist. Dass es tatsächlich anders ist habe ich ja auch geschrieben.
Es geht mir hier nur darum, dass Selektion nicht nur durch Mutationen bedingt ist, sondern auch durch die Rekombination der Gene ohne, dass diese mutiert sind. Das zeigen die Blutgruppen deutlich, da nur das Allel Null (ohne, dass dessen Anlagen mutiert sind) einen Selektionsvorteil gegenüber A, B und AB hat, weil eben Null die Sleketionsvorteile hat, die du aufgezählt hast
Zitat: |
Ausserdem besteht nach meinem Wissen die Theorie, dass sie aus Blutgruppe A mutiert ist. |
Kann sein. Möglicherweise ist Null durch selektion aus A entstanden. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir 4 Allele haben und der Träger mit dem Allel Null einen Selektionsvorteil hat.
Es geht mir hier wirklich nur um die Unterscheidung:
Selektion durch Genmutation
Selektion durch Rekombination (vorhandener Anlagen, die zu neuen Merkmalen mit Selektionsvorteil führen)
Zitat: |
Das mit der Duplikation funktioniert übrigens auch andersherum und bedeutet manchmal ein Dominanzkriterium: Ein Individuum trage eine letale und eine gesunde Ausprägung eines Merkmals. Ein Stillegen des Gens sei nicht möglich oder ebenfalls letal. Das Gen für das Merkmal "gesund" könnte nun dupliziert werden, um damit bei Expression dieses Gens statistisch 2/3 des funktionsfähigen Proteins eines Gesunden zu erhalten. Tatsächlich ist der Anteil jedoch sogar noch höher. |
Ich sagte nicht umsonst, dass Evolution sehr komplex ist. Es gibt viele Ebenen und Wege um zu einem neuen Merkmal zu gelangen. Leider sehen die meisten Menschen immer nur die Genmutation |
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